Masuren
Nein, ich gehöre nicht zu den Menschen, die familiär irgendetwas mit Ostpreußen zu tun haben. Trotzdem ist Masuren für mich ein „Sehnsuchtsland“. Ich war nun zum zweiten Mal hier und wieder begeistert. Stundenlang könnte ich auf einem Bootssteg sitzen und die Landschaft betrachten. Vor mir: Schilf, Wasser und die Unendlichkeit des Himmels. Schöner kann Urlaub kaum sein.
Wir hatten ein Hotel in Mragowo, auf deutsch Sensheim, mitten in Masuren. Zu meiner Urlaubslektüre gehörte das Buch Veruschka. Mein Leben. Veruschka von Lehndorff galt in den 1960ern als das deutsche Topmodel. Geboren in Steinort an einem der unzähligen masurischen Seen wuchs sie in Adelskreisen und behütet von Gouvernanten auf. Bis zu dem Tag, als ihr Vater, Graf Heinrich von Lehndorff, als Mitglied des Widerstandes im September 1944 hingerichtet wurde. Er war neben Graf von Stauffenberg maßgeblich an dem missglückten Attentat auf Hitler beteiligt.
Nach einer kurzen Kindheit begann die Tragödie ihres Lebens, als sie sechs Jahre alt war. Flucht, Vertreibung aus Ostpreußen, Kinderheim, Internate und dann der Weg in die internationale Modelkarriere.
Natürlich führte mich mein Weg nach Steinort, heute ist der Lehndorffsche Palast eine Ruine, allerdings mit der Idee, sie in bilateraler Zusammenarbeit zu renovieren.
Es wäre wünschenswert, ein Ort mit dieser Historie sollte sich mit dem Erbe der Vergangenheit auseinandersetzen und es bewahren. Die Journalistin und ZEIT-Herausgeberin Marion von Dönhoff wuchs ganz in der Nähe auf, allerdings weiter nördlich im heutigen Russland. Sie war die Patentante Veruschkas, soviel nur zu den familiären Zusammenhängen.
Nach einigen Tagen lernte ich durch Zufall in dem winzigen Ort Galkowo die Journalistin Renate Marsch kennen. Sie war Kollegin und Freundin Marion von Dönhoffs und arbeitete als Korrespondentin einer deutschen Nachrichtenagentur in Warschau und Kaliningrad zu Zeiten des Kalten Krieges. Ich traf sie im ehemaligen Forsthaus der Lehndorffs in Galkowo. Einst stand dieses denkmalgeschützte Gebäude in Steinort, doch ihr Sohn Alexander transferierte es nach Galkowo, wo es originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Heute findet man hier ein kleines Museum und ein Restaurant mit Außenterrasse. Auch nach ihrer Pensionierung blieb Renate Marsch in Polen. „Mein Vater war Förster, und ich habe eine tiefe Liebe zu den Wäldern“, sagte sie. Daher entschied sie sich, ihren Lebensabend in Masuren zu verbringen. Wir unterhielten uns über den Journalismus zu Zeiten des Eisernen Vorhangs, im Allgemeinen und Besonderen, leider war die Begegnung viel zu kurz und wir verabredeten ein Wiedersehen irgendwann.
Fronleichnam verbrachte ich in Heiligelinde, einem der bekanntesten Wallfahrtsorte von Polen, nur wenige Kilometer von Mragowo entfernt. Die Polen sind ein gläubiges Volk, sowohl hier als auch in Mragowo fanden Messen und Gottesdienste statt. Ich unterhielt mich mit dem Jesuitenpriester Marek. Er ist glücklich, an diesem bekannten Pilgerort zu sein, denn dadurch hätte er Kontakte zu Menschen aus aller Welt. Er schwärmt von seiner Priesterausbildung in Rom, überhaupt sei Italien das schönste Land, das er kenne. Ein sympathischer junger Mann, der perfekt Englisch sprach und mir Gottes Segen für meine zukünftigen Reisen wünschte.
Ortswechsel Wolfsschanze. Hitlers Hauptquartier von 1941 bis 1944. Eine mächtige Bunkeranlage im Dschungel von Masuren. So kann ich die Gegend nicht anders bezeichnen, denn sie beeindruckte mich mit ihren dichten Wäldern und fast tropisch anmutenden Farnen und Pflanzen. Hier fand es also statt, das berühmte Attentat auf Hitler im Sommer 1944, das ihn fast unverletzt ließ, wofür aber zahlreiche Widerstandskämpfer, darunter viele Aristokraten aus Ostpreußen, mit dem Leben bezahlen mussten. Ich streifte stundenlang durch den Wald, vorbei an moosbewucherten Betonbauten, die einst das Schreckensregime des Dritten Reiches beherbergte. Ich war fasziniert, anders kann ich es nicht beschreiben, von der Anlage, die schon fast gespenstisch in den Wäldern liegt. Ein paar englische Touristen machten sich einen Scherz daraus, mit einem alten Militärmoped und einem Panzer auf den Waldwegen herumzubrettern.
Einen weiteren Nachmittag verbrachte ich mit Fährmann Robert auf der Krutyna, angeblich Europas schönstem Fluss. Mit einem Kahn stakten wir durchs Gewässer, die Gegend war so fremdartig und einzigartig, dass ich aus dem Staunen nicht mehr herauskam. Robert erzählte mir, dass die meisten Touristen aus Deutschland kämen, darunter viele so genannte „Heimwehtouristen“, die das Land einst als Flüchtlinge verlassen mussten.
Ein paar Kilometer entfernt dann das winzige Dorf Cierzpiety. Nichts Besonderes für die Einheimischen hier, aber für mich. Eine Bilderbuchlandschaft, deren Bilder aus einem Buch aus dem 1950er Jahren stammen könnten. Ein oder zwei Kilometer vom Dorf entfernt entdeckte ich einen der idyllischsten Seen Masurens. Kein Mensch weit und breit, nur Schilf und ein paar verfallene Holzstege. Dazu dieser endlose Himmel mit seinen Wolkenkreationen.
Erst als ich nach Mragowo zurückfuhr wachte ich aus dem Traum, der mich in fast vergessene Landschaften führte, wieder auf.
Soviel nun zu den Urlaubstagen in Masuren. Schön, noch einmal dagewesen zu sein. Ich hoffe, es ist nicht das letzte Mal gewesen!
Dowidzenia, Polsko!