Gastautorin Marija Popadinets: Die Frau, die mit sich selbst redete

Bild(1) (Medium)Geboren und aufgewachsen bin ich in Transkarpatien, im Westen der Ukraine. Seit 1992 lebe ich in Deutschland. Neben der Familie und dem Job widme ich mich dem Schreiben. Das ist meine Leidenschaft. Jede freie Minute. Meine Muttersprache ist Ukrainisch, wobei ich auch mit Russisch als Staatssprache aufgewachsen bin. Das erste Buch „Die Hängebrücke über die Theiß“, das im Jahr 2006 veröffentlicht wurde, schrieb ich in deutscher Sprache. Meine deutschen Sprachkenntnisse habe ich mit meinem Umzug nach Deutschland erlernt. Derzeit arbeite ich an mehreren Kurzgeschichten, die demnächst in einem Buch herauskommen werden.

http://marijapopadinets.wordpress.com/

Die Frau, die mit sich selbst redete

Halja bog um die Scheune und lief an den Haselnusssträuchern vorbei, als ihr plötzlich die Mütze vom Kopf gerissen wurde. In dem Moment standen auf einmal Jurij und sein Freund da und versperrten ihr den Weg. Sie bemerkte gar nicht woher und wie die beiden sich an sie herangeschlichen hatten.

„Lasst mich vorbei!“, rief Halja und riss den Jungen ihre Mütze aus der Hand. „Hast du wirklich gedacht, du kannst einfach davonlaufen?“, sagte Jurij, während er sich Halja näherte. „Lass mich in Ruhe, sonst…!“ „Sonst was?“, grinste Jurij. „Ich erzähle das meinem Vater!“ Halja wich zurück. „Du glaubst doch nicht, dass du mir mit dem Säufer Angst machen kannst?“ Jetzt lachte Jurij laut und sein Freund mit. „Ihr gemeinen Blödmänner!“, rief das Mädchen und versuchte erneut an ihnen vorbei zukommen.

Der eine Junge packte Halja am Schulranzen und riss ihn herunter und Jurij stieß sie in die Brust, so dass sie in den Schnee fiel. Das Mädchen fing an zu weinen und versuchte aufzustehen. Jurij und sein Freund lachten jetzt beide. „Komm wir ziehen ihr die Hose runter“, sagte Jurij. Sie stürzten sich auf Halja. „Nein, lasst mich in Ruhe! Hilfe!“, rief sie. Der eine der beiden drückte sie zu Boden, der andere versuchte ihr die Hose runter zu zerren. Halja hielt mit beiden Händen ihre Hose am Bauch fest, wobei ihr Hintern bereits nackt war und sie den kalten, nassen Schnee spürte. Sie schrie und trat um sich mit den Beinen, aber die beiden machten weiter.

„Verschwindet, ihr elenden Mistkerle. Lasst das Mädchen in Ruhe!“, hörte sie auf einmal jemanden rufen. Jurij und sein Freund ließen sie plötzlich los, standen auf und rannten weg. Halja zog sich im Liegen die Hose hoch und wollte gerade aufstehen, als sich Jawdocha über sie beugte. Das Mädchen erschrak aufs Neue, denn das war die Frau, vor der sich nicht nur alle Kinder in der Siedlung fürchteten. Sie redete immer mit sich selbst und galt deshalb als verrückt. Man sagte, sie spräche mit dem Teufel, so dass auch die Erwachsenen sich lieber von ihr fernhielten.

Ihren einzigen Sohn verlor Jawdocha im Zweiten Weltkrieg, einen Mann hatte sie nicht und so lebte sie in ihrer alten Holzhütte, die jeden Moment einzustürzen drohte, schon lange alleine. Niemand wusste, wie alt sie genau war, wobei sie wie hundert aussah.

„Steh auf, Kind.“ Mit einer Hand stützte sie sich auf ihren Stock, mit der anderen half sie Halja hoch. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“ sagte Jawdocha, während sie den Schnee von Haljas Mantel abklopfte und ihr die Mütze aufsetzte. „Den beiden habe ich es gezeigt“, deutete sie in die Richtung, in die sich Jurij und sein Freund entfernt hatten. Halja zitterte immer noch vor Angst und Kälte. „Du bist ja ganz verfroren, komm mit rein, ich habe eine warme Kartoffelsuppe.“ Sie lächelte und ihre außergewöhnlich klaren, braunen Augen strahlten eine unglaubliche Wärme aus. Unter dem schwarzem Kopftuch schauten Jawdochas weiße Haarsträhnen hervor. Ihre faltige Haut im knochigen Gesicht war blass und hatte einen gelblichen Stich. Sie hatte kaum noch Zähne im Mund.

So gruselig ist sie gar nicht, dachte Halja. Sie hob ihren Schulranzen auf die Schultern und folgte der Frau in die Hütte.

Über sl4lifestyle

Journalistin aus Leidenschaft, Tierschützerin mit Hingabe und neugierig auf das Leben. Ich stelle Fragen. Ich suche Antworten. Und ab und zu möchte ich die Welt ein Stückweit besser machen ... Manchmal gelingt es!
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2 Antworten zu Gastautorin Marija Popadinets: Die Frau, die mit sich selbst redete

  1. marijap1 schreibt:

    Hat dies auf Leben und Schreiben in nicht (meiner) Muttersprache rebloggt und kommentierte:
    Vielen Herzlichen Dank, Sabine Ludwig!

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