Von Gastautorin Claudia Seidl
Tibet – ein karges Land, ein unwirtliches, abgeschottetes – umgeben von den höchsten Bergen der Erde. Dach der Welt, Hochebene mit extremen Wetterbedingungen und weiten Weideflächen. Wer lebt in einem solchen Land?
Menschen, die von einem Affen und einer Bergdämonin abstammen.
Das zumindest erzählen die Tibeter selbst – und ein Grinsen huscht über ihre Gesichter. Denn sie wissen, welche Geschichte sie jetzt zum Besten geben können:
Ein Affe, so wird erzählt, legte vor dem erhabenen Herrn des Vollkommenen Mitgefühls das Gelübde ab, die Lehre des Buddhas zu verwirklichen und erleuchtet zu werden. Dazu musste er meditieren und deshalb schickte der Herr ihn in das Schneeland Tibet.
Dort lebten viele Dämonen. Eine von ihnen, eine Bergdämonin, erfuhr vom meditierenden Affen. Das beeindruckte sie sehr. Im Geist sah sie sich diesen erstaunlichen Affen an und verliebte sich augenblicklich in ihn, und dies in Art der Dämonen, also besonders heftig.
Wie und ob die Dämonin den meditierenden Affen herumkriegt, schrieb Ulli Olvedi im Buch „Hinter den Schneebergen“ auf. Sie erzählt in diesem schmalen Band Märchen, Legenden, Fabeln und Schwänke aus dem tibetischen Kulturraum.
Vieles ist zum Lachen, manches zum Nachdenken, aber alles vermittelt das Lebensgefühl der Tibeter.
Gehört hat sie diese Geschichten von Erzählern – von solchen, die in Tibet selbst von Dorf zu Dorf von Siedlung zu Siedlung ziehen. Ihre Existenz ist ein unbezahlbarer Schatz, besonders seit das Land zur „Autonomen Provinz Chinas“ wurde und das kulturelle Bewusstsein des Landes unter chinesischen Umstrukturierungen zu leiden hat.
Aber Olvedi hörte die Geschichten auch von solchen Menschen, wie dem alten Pemba, der 1959 mit seiner Familie, mit Onkeln, Tanten und mehreren Cousins über den verschneiten Himalaja nach Nepal fliehen musste.
Vom Wert der Geschichten für Tibet
„Es waren die Geschichten, die uns gerettet haben“, erzählt er. „Wenn es hieß, die Chinesen seien uns auf der Spur, oder wenn uns ein Schneesturm überfiel, hatte mein Papa immer eine Geschichte bereit, die uns allen Hoffnung gab.“
Der alte Pemba drückt mit diesen wenigen Sätzen aus, was die von Olvedi aufgeschriebenen Geschichten noch bedeuten: Die alten Fabeln, Märchen und Schwänke stiften Sinn und kulturellen Zusammenhalt in einer Welt, in der alles zusammenzubrechen droht. Sie können Groß und Klein begeistern; die Geschichten begleiten bis die Menschen in Sicherheit sind – und darüber hinaus.
Tibeter gibt es übrigens mehr als die offiziellen chinesischen Statistiken wahrhaben wollen: Sie leben nicht nur in der Autonomen Provinz, sondern auch in Nepal, Bhutan, Myanmar und Indien. Was ihnen gemeinsam ist? Sie tun alles, um ihre Kultur zu bewahren – ihre Sprache, ihre Schrift und ihre Geschichten, die sie gern erzählen und denen sie vor allem immer wieder lauschen wollen.
Geschichtenschatz in Dharamsala
Für Exiltibeter – also für jene, die flüchten und mit dem Dalai Lama versuchen, ihre Kultur und Werte zu bewahren und weiter zu leben – für diese Tibeter Grund genug, möglichst viele der erzählten Geschichten zu sammeln und zu dokumentieren.
Sie bewahren einen Teil dieses Schatzes in ihrer Bibliothek in Dharamsala, Indien, auf – in der Abteilung für orale Erzählungen. Eine Fundgrube für die Leser*innen dieser Welt, die des Tibetischen kundig sind.
Für alle anderen muss es genügen, dass jemand übersetzt. Olvedi ist es mit ihrer Geschichten-Auswahl gelungen, das Lebensgefühl der Tibeter nahe zu bringen. Auch mit ihren Erklärungen zum Schneeland selbst und dessen Bewohnern!
Ich – persönlich – hätte mehr Geschichten und mehr von Olvedis Wissen vertragen können! Wie sieht’s mit dir aus?
Ulli Olvedi: Hinter den Schneebergen. Sagenhafte Geschichten aus dem alten Tibet, 208 Seiten, 18,99 Euro.
Schaut mal in Claudia Seidls Blog Märchen für Globetrotter. Claudia ist eine begnadete Geschichtenerzählerin, liebt Märchen, Mythen und Sagen aus aller Welt.
Taucht ein in die Welt Eurer Kindheit, die auch uns Erwachsenen oft so gut tut. Lasst Euch entführen und verzaubern. Es lohnt sich!
„Taucht ein in die Welt Eurer Kindheit …“ Bei dieser Aussage im Zusammenhang mit Geschichten, Mythen, Märchen oder anderen Überliefungen krieg ich immer die Krise. Denn, wenn überhaupt, ist es die Welt unserer Ahnen, in die wir eintauchen.
Ansonsten werde ich mir tatsächlich überlegen, mir dieses Buch anzueignen, Danke Claudia für diese Rezension.
Ja, ich fand Claudias Annäherung auch sehr treffend. Trotzdem ist ein Befassen mit Märchen und Mythen für mich ein Eintauchen in die Vergangenheit, sprich Kindheit, auch wenn man die Geschichten als Welt der Ahnen formulieren kann.
Ein ganz toller Beitrag, vielen Dank dafür! Das Buch habe ich soeben auf meine Liste gesetzt und bin schon sehr gespannt!😉
Liebe Maria, das freut mich sehr, dass damit mein Web-Magazin seine Aufgabe erfüllt. Dir ein tolles Lesevergnügen!