1929 in Wien geboren und aufgewachsen verbringt Greta Klingsberg eine ganz normale Kindheit. Bis es Juden auf einmal verboten ist, zur Schule zu gehen, in Geschäften einzukaufen oder auf Parkbänken zu sitzen. Sie müssen gelbe Sterne tragen und werden nicht mehr gegrüßt. „Jeden Tag gab es eine neue Bestimmung“, erinnert sie sich heute.
1938 nach dem Anschluss Österreichs flüchtet sie mit ihren Eltern und ihrer jüngeren Schwester Trude aus Wien in die Tschechoslowakei. Die Eltern schließen sich dort einer Gruppe an und gelingen illegal nach Palästina. Ihre Töchter haben sie in ein Heim geben müssen, wie andere jüdische Eltern ihre Kinder auch. Die geplante Reise der Kinder zu ihren Eltern scheitert. Nach dem Einmarsch der Deutschen kommen die Kinder in ein tschechisch-jüdisches Waisenhaus.
Anfang 1942 wurdest Du mit deiner Schwester nach Theresienstadt deportiert.
Das Ghetto war noch nicht organisiert. Es dauerte, bis sich die jüdische Selbstverwaltung um die Kinder kümmerte.
Dann richtete man Häuser für die Kinder ein.
Unseres war L 410, das Haus der Mädchen, ein normales Wohnhaus eigentlich. Das Zimmer hatte die Nummer 25 und es lebten dort sehr viele Kunst liebende Kinder. Wir haben sehr viel gesungen, Gedichte gemacht und gezeichnet. Aber wir waren gepfercht. Dreißig Mädchen in einem kleinen Raum. Es gab keinen Schrank. Unsere Habe hatten wir auf unseren Lagern – Kleiderfetzen, ein Buch, eine Zahnbürste.
Die Zeichnungen der Kinder von Theresienstadt sind berühmt. Hast Du auch gezeichnet?
Ich weniger, meine Schwester schon. Ich habe geschrieben. Etwa eine Unterhaltung mit einem künstlichen Gebiss. Wie ich darauf kam? Im Ghetto gab es sehr viele alte Frauen. Die Organisationen „Stützende Hand“ schickte Kinder zu ihnen. Wir sollten sie etwas fröhlicher machen. Bei einem solchen Besuch habe ich wahrscheinlich ein künstliches Gebiss gesehen. Jedenfalls kam mir die Idee, dass man das abends herausnimmt und sich mit diesem unterhält.
Um Euch kümmerten sich Erzieher und manchmal hattet Ihr auch illegalen Unterricht. Wie verlief dieser?
Wir hatten dauernd heimlichen Unterricht. Mitschreiben konnte man bei den Vorträgen nicht, denn das Papier wurde für die zeichnenden Kinder gebraucht. Uns wurde viel erzählt, zum Beispiel über Literatur. Gedichte musste ich auswendig lernen, „Sängers Fluch“, „Die Kraniche des Ibykus“. Meine Schule war improvisiert, aber sehr phantasievoll.
Hattest du Kontakt zu deiner Schwester?
Wir konnten uns leicht besuchen. Aber ich war streng zu ihr. Einmal wollte sie aus einem Mistkübel etwas herausholen, irgendein altes Spielzeug. Ich habe ihr das verboten: So etwas macht man nicht! Das tut mir heute noch leid.
In Theresienstadt kannten dich viele Menschen durch deinen Gesang.
Ich habe mein ganzes Leben gesungen. Musik bedeutet mir noch heute alles.
Wie wurdest du entdeckt?
Jemand wusste, dass ich eine klare, helle Stimme hatte, einen hohen Sopran und ein absolutes Gehör. So wirkte ich bei verschiedenen Konzerten im Lager mit, beispielsweise im Chor von Verdis „Requiem“. „Libera me domine“ – für uns war das Erlösung aus dem Jetzt, nicht aus dem Tod.
Du hast auch bei verschiedenen Opernaufführungen mitgewirkt.
Ich war im Chor bei „Figaros Hochzeit“ und in der „Verkauften Braut“. In der „Zauberflöte“ hatte ich meine erste Rolle. Ich sang den zweiten Knaben. Dann kam „Brundibár“.
Was ist für Dich das Besondere an diesem Stück, in dem du das Mädchen Aninka mehr als 50 Mal gespielt hast?
Dass dieses Stück nur von Kindern gespielt wird! Und auch vom musikalischen Standpunkt aus ist es wertvoll. Es ist eine schöne, leichte und harmonische Musik, zwischen Strawinsky und Weill. Ich bin so froh, dass die Oper lebt!
Wovon handelt sie?
Wenn Kinder zusammenhalten, dann siegen sie auch über alles Böse.
In der Brundibár-Rezeption gibt es verschiedene politische Deutungen, aber für Euch Kinder hatte sie eine andere Bedeutung.
Selbstverständlich! Wir waren froh, auf der Bühne zu sein. Es waren Stunden des normalen kindlichen Lebens. Plötzlich gibt es einen Hund und eine Katze und einen Spatz. Es gibt eine Schule, es gibt Milch, es gibt Eis – also alles Sachen, die wir kaum mehr kannten! Und selbst der Brundibár war populär. Er hatte einen Schnurrbart, der wackelte hoch und runter, wenn er gesungen und gebrüllt hat. Das fanden wir schrecklich komisch. Ob jetzt die Erwachsenen in Brundibár Hitler gesehen haben? Das war für uns Kinder vollkommen unwichtig.
Im Ghetto wurdest du nicht mehr Greta, sondern Aninka gerufen.
Die Oper war sehr bekannt. Viele wollten mitspielen. Es gab wechselnde Besetzungen, aber nicht aus normalen Gründen, sondern weil Kinder abtransportiert wurden. Ich hatte Glück. Ich blieb bis zum vorletzten Transport in Theresienstadt.
„Brundibár“ wurde auch für den Nazi-Propagandafilm „Theresienstadt“ benutzt. Kannst du dich an die makabren Dreharbeiten erinnern, als aus dem Ghetto ein Potemkin-Dorf wurde?
Uns Kindern gab man Sandwiches. Die haben wir so schnell aufgegessen, dass sie uns noch einmal welche geben mussten.
Wie ist es für dich, wenn du heute den „Brundibár“-Ausschnitt siehst?
Ich kannte ihn gar nicht. Eine gute Freundin in Israel hat mich darauf aufmerksam gemacht: Da bist du in dem Film! Wie kannst du mich erkennen? Große Nase, große Augen, das bist du. Es stimmt! Ich habe mich scheinbar nicht viel geändert, außer einigen Falten.
Theresienstadt wurde als der „Vorhof zur Hölle“ bezeichnet.
Es war ein Teil unserer Kindheit, dass Leute starben, dass es Hunger gab, dass es Schmutz gab. Es gab Kinder, die plötzlich neben mir starben, weil sie unterernährt waren oder an Typhus litten.
Am 23. Oktober 1944 wurdest du mit deiner Schwester und den anderen „Brundibár“-Kindern nach Auschwitz deportiert.
Für uns Kinder war das eine Fahrt ins Irgendwo. Manche hatten Angst, von ihren Eltern getrennt zu werden. Ich hatte meine Schwester und meine Betreuerin Laura. In Auschwitz kamen wir in der Nacht an. Ich hörte Geschrei und Hunde. Ich sah, wie meine Schwester auf die eine Seite ging und ich mit Laura auf die andere. Was das bedeutete? Ich wusste es damals nicht.
Greta Klingsbergs Schwester Trude wird in Auschwitz ermordet, sie selbst kommt mit dem Leben davon und wird mit einer Gruppe von Frauen von Auschwitz nach Oederan gebracht, einem Außenlager des KZ Flossenbürg. Dort arbeitet sie in einer Munitionsfabrik. Beim Heranrücken der Front wird das Außenlager aufgelöst. Die Häftlinge sollen nach Mauthausen geschafft werden, doch dieses Lager ist überfüllt. So gelangt Greta Klingsberg wieder nach Theresienstadt, wo sie die Befreiung mit ihrer Erzieherin Laura Schimko erlebt. Einige Zeit verbringt sie in einem Pitter-Heim, bis sie 1946 nach Palästina auswandert, in der Gruppe, zu der auch der Maler Yehuda Bacon gehört. In Palästina trifft sie ihre Eltern wieder, nach mehr als sieben Jahren. Klingsberg arbeitet fast 40 Jahre als Sängerin und beim israelischen Rundfunk.
Greta Klingsberg mit Schülerinnen und Schülern bei einer Aufführung der Kinderoper „Brundibár“.
Mit freundlicher Genehmigung des Mainfrankentheaters Würzburg. Vielen Dank an Alexander Jansen, Dramaturg, für das Interview.
Foto unten: Gabriela Knoch