Diese Reportage erschien am 19. Juli 2014 in der Zeitung Die Tagespost.
Die Wolfsschanze erlangte traurige Berühmtheit als Hitlers Hauptquartier.
Tatort Wolfsschanze, Polen: Hier jährte sich am 20. Juli 2014 zum 70. Mal das gescheiterte Attentat auf Adolf Hitler. Inmitten der dunklen Wälder Masurens liegen heute die Trümmer der gesprengten, bis zu sechs Meter dicken Bunkerwände und formen eine grausig-groteske Felslandschaft.
Nichts erinnert mehr an die rund 40 Wohn-, Wirtschafts- und Verwaltungsgebäude sowie sieben massive und 40 leichte Stahlbetonbunker von einst. Die Decken der Bunker waren sechs bis acht Meter dick. Die Anlage hatte einen Bahnanschluss und besaß einen eigenen Flugplatz. Das gesamte Gelände war von einem 50 bis 150 Meter breiten Minengürtel und einem zehn Kilometer langen Stacheldrahtzaun umgeben. Ständige Funk- und Telefonverbindung nach Berlin und zu allen Frontabschnitten garantierten neueste Informationen über die Ostfront. Und mittendrin – im Bunker 13 – war Hitler und plante den Krieg gegen Russland.
„Wir haben hier ein Mädchen, das ist die Tochter eines Verbrechers.“ Die Lehrerin deutet auf eine Schülerin. „Das bist du, Vera“. Später wird das Kind von der Mutter erfahren, dass sein Vater kein Mörder war. „Dein Vater ist ein Held – aber sprich nicht darüber.“ Vera von Lehndorff ist die Tochter von Heinrich Graf von Lehndorff, bekannt als einer der Hitler-Attentäter. Die meisten kennen sie unter dem Namen Veruschka, die einst schönste Frau der Welt, wie sie auf den Titelbildern unzähliger Modemagazine genannt wurde.
Nach Jahren im Ausland ist Vera zurückgekehrt, sitzt in der Lobby des alten Berliner Hotels Adlon und sagt: „Hier, in einem der Zimmer im ersten Stock hat meine Mutter den letzten Brief meines Vaters ausgehändigt bekommen. Das war kurz nach seiner Hinrichtung.“ Das Mädchen war zu der Zeit schon in einem der Kinderheime untergebracht und sollte adoptiert werden. Denn Kinder von Nazi-Gegnern wurden den Eltern weggenommen, zur Adoption freigegeben oder in Elite-Internate, den so genannten Napolas gesteckt. Ihr Vater Heinrich Graf von Lehndorff hatte nur eine Schuld auf sich geladen: Gemeinsam mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg und weiteren Verbündeten hatte er das Attentat auf Hitler geplant und ausgeführt.
Das Gesicht des Vaters
Als es scheiterte wussten die Männer, dass das ihren Tod bedeutet. Kurz vorher hatte Lehndorff seine Kinder nach Rastenburg gebracht, sie dort in den Militärzug nach Berlin gesetzt und in Sicherheit gebracht. Vera war die älteste der drei Schwestern und fühlte die Verantwortung, die man ihr lautlos übertrug. Sie erinnert sich an das ernste Gesicht ihres Vaters ganz nah an der Scheibe des Zugfensters. Heute ist dieses Gesicht die letzte Erinnerung an einen Mann, der Deutschland befreien wollte und sich dafür selbst opferte. Vielleicht ahnte er damals schon, dass er seinen verzweifelten Mut mit dem Leben bezahlen würde.
Einem Tag nach dem gescheiterten Anschlag fuhr die Gestapo nach Schloss Steinort im heute polnischen Masuren, um den Familienvater zu verhaften. Mit einem Sprung durchs Fenster rettete er sich vorläufig in die dichten Wälder rings um das Gut.
Als man ihn schließlich fasste und nach Berlin brachte, gelang ihm erneut die Flucht. Erst nach Tagen in der Wildnis wurde er verhaftet. Der erste Senat des Volksgerichtshofs verurteilte ihn wie auch die anderen Verschwörer zum Tod. Schwer misshandelt wurde er am 4. September 1944 in Berlin-Plötzensee gehenkt. „Ich sterbe mutig und ohne Todesangst, sehe darin eine Fügung Gottes, habe vollkommen Trost in meinem Glauben gefunden“, waren seine letzten Worte. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Seine Frau Gottliebe kam ins Gefängnis und brachte dort ihre vierte Tochter zur Welt. Vera und ihre Schwestern wurden in Kinderheimen der Nationalsozialisten verwahrt, wie alle Kinder der Beteiligten des 20. Juli. Die Familie wurde zerrissen und fand erst nach Jahren wieder zueinander.
Nach außen hin war Graf von Lehndorff ein Hitler- und linientreuer Offizier, in dessen Haus Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop ein- und ausging. Niemand ahnte, dass er bereits seit 1940 dem Widerstand angehörte. Die perfekte Fassade fiel erst mit seinem Scheitern.
Heute erinnert ein unscheinbarer Findling vor dem verfallenen Gebäude an den letzten Eigentümer. „Es vollzieht sich eine völlige Wandlung, wobei das bisherige Leben allmählich ganz versinkt und gänzlich neue Maßstäbe gelten“, lautet die Inschrift. Es waren die letzten Zeilen aus dem Abschiedsbrief an seine Frau.
Fotos: Enric Boixadós