
Andrea Behm im Gespräch mit Außenministerin Annalena Baerbock Anfang Februar 2022 nahe der „Kontaktlinie“. Foto: Archiv Behm.
Vor einem Jahr war ich noch in der Ukraine, habe den Beginn des Krieges miterlebt und wurde zwei Tage nach dessen Ausbruch evakuiert.
Meine ehemalige Kollegin Andrea Behm, die im Osten des Landes im Einsatz war, schildert ergreifend und berührend, wie diese „Flucht“ für uns Beobachterinnen und Beobachter der einst größten Special Monitoring Mission (SMM) der Welt wirklich war.
„Wir brauchen Friedenskonferenzen in Helsinki!“
von Andrea Behm, Juristin, MA Friedensforschung und ehemalige Beobachterin der OSZE Mission in der Ukraine
„Mach´ Dir keine Sorgen, Andrea“, sagte mein Kollege Andrej, ein ehemaliger russischer Luftwaffenoffizier, fröhlich zu mir am Morgen des 24. Februars 2022 im Büro der Sonderbeobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Mariupol. „In drei oder vier Tagen ist alles vorbei. Mariupol und die Ukraine werden demilitarisiert und entnazifiziert sein, und es wird wieder Ruhe einkehren.“ Ich war kurz zuvor in meiner Wohnung, zwei Kilometer vom Hafen entfernt, durch nahe Explosionen und klirrende Fensterscheiben geweckt worden.
Seit Dezember 2021 war ich als Beobachterin der OSZE zunächst im Gebiet der Bezirkshauptstadt Donezk täglich auf Patrouille und dann nach Mariupol versetzt worden.
Spätestens ab Januar 2022 mit der eskalierenden Zunahme von Waffenstillstandsverletzungen an der sogenannten „Kontaktlinie“, unserem „Arbeitsplatz“, war mir klar, dass Russland die Ukraine angreifen und es gerade in der strategisch wichtigen Hafenstadt Mariupol zu einem grausamen Häuserkampf kommen würde.
Die OSZE-Missionsleitung sowie die Bundesregierung hofften noch auf eine Verhandlungslösung mit Putin, während die Amerikaner und Briten ihr Personal aus Sicherheitsgründen bereits zehn Tage vor dem Angriff Russlands aus der Mission abgezogen hatten. Die Anspannung unter uns verbliebenen Beobachter*innen wuchs von Tag zu Tag.

„Grünes Licht“ für die Evakuierung. Eine Kolonne gepanzerter Wagen setzt sich Richtung Moldawien in Bewegung. Es wird eine lange und gefährliche Fahrt werden. Foto: Archiv Behm.
Am 25. Februar 2022 endlich bekamen wir grünes Licht zur Evakuierung: Mit einigen unserer ukrainischen Kolleg*innen samt deren Kindern und Haustieren fuhren wir in einem langen Konvoi gepanzerter Wägen zwei Tage quer durch die Ukraine Richtung Chisinau in Moldawien. Ein wahrer Exodus. Nie wissend, was im nächsten Moment passieren würde. Nur wenige Tage später berichteten ukrainische Kolleg*innen, die im OSZE-Büro in Mariupol geblieben waren, dass zahllose Tote um das Bürogebäude herum lagen, Menschen, die einfach nur Wasser holen wollten.
Trauriger Schlusspunkt der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine: Eine ukrainische Kollegin wurde bei einem Bombenangriff in Kharkiv getötet.
Vier ukrainische Kollegen wurden von russischen Truppen verhaftet. Zwei von ihnen wurden aufgrund ihrer Tätigkeit für die OSZE wegen „Hochverrats“ zu zehn Jahren Haft verurteilt, die anderen beiden sind bis heute inhaftiert. Am 31. März 2022 beendete Russland mit seinem Veto die Arbeit der OSZE-Mission in der Ukraine.
Nun stellt sich die Frage: Was hat die Arbeit der OSZE seit ihrem Einsatz im Jahre 2014 tatsächlich gebracht? Konnte sie zu einer friedlichen Lösung des Konflikts beitragen, und wenn ja: Was?
Das Mandat der OSZE-Beobachtermission in der Ukraine sah vor, dass 500 Mitarbeitende die Lage unparteiisch und objektiv beobachten, Fakten über Waffenstillstandsverletzungen ermitteln, darüber berichten und den Dialog zwischen den Konfliktparteien vor Ort fördern.
Dazu arbeiteten wir Beobachter*innen – bedauerlicherweise immer nur mit einem unzureichenden Kontingent von 200-250 Personen im Osten des Landes – mit Behörden auf allen Ebenen sowie mit der Zivilgesellschaft, ethnischen und religiösen Gruppen und lokalen Gemeinschaften zusammen. Wir überwachten nicht nur den Abzug schwerer Waffen nach dem Minsk-Abkommen, sondern auch örtlich und zeitlich begrenzte Waffenstillstandsvereinbarungen, damit zerstörte Infrastruktur wieder repariert und Millionen Menschen auf beiden Seiten wieder mit Wasser, Strom und Wärme versorgt werden konnten. Wir beobachteten die „Grenzübergänge“ im Konfliktgebiet, damit Menschen ihre Verwandten auf der jeweils anderen Seite besuchen, an Familienfeierlichkeiten teilnehmen und ihre Sozialversicherungsleistungen in Empfang nehmen konnten.

Andrea Behm und ihre Kolleg*innen auf ihren täglichen Grenz-Patrouillen: „Informationen sammeln und Fakten checken“, lauteten unter anderem ihre Aufgaben. Foto: Archiv Behm.
Auf unseren Patrouillen, zu denen auch russische Staatsangehörige gehörten, sammelten wir Informationen, sicherten Fakten und sandten täglich einen Bericht nach Wien, dem Hauptsitz der OSZE, wo er auf der Webseite veröffentlicht wurde. Für alle einsehbar.
Nur – wer las unsere Berichte? Wer verfolgte die kleinen und größeren Erfolge – und auch Misserfolge – der sogenannten „Trilateralen Kontaktgruppe“, in der die OSZE gemeinsam mit Vertreter*innen der Ukraine und der Russischen Föderation nach einer diplomatischen Lösung des Konflikts suchte? Wer beachtete unsere Menschenrechtsarbeit?
Viel zu selten wurden unsere Beobachtungen als Argumentations- oder gar als Entscheidungsgrundlage herangezogen. An der Qualität unserer Arbeit kann es nicht gelegen haben. Woran aber dann? War unsere Mission in der Ukraine – wie einige sagten – zu einem Feigenblatt westlicher Friedenspolitik verkommen?
Tatsächlich hat die OSZE als Institution in den letzten 20 Jahren an politischem Gewicht verloren. Anders als Russland, die aus ihr eine „Mini-UN“ für alle sicherheitsrelevanten Fragen in Europa machen wollte, war dem Westen unter der Führung der USA die NATO wichtiger, er konzentrierte sich auf ihre Erweiterung im Osten anstatt auf eine inklusivere europäische Sicherheitsordnung und eine Stärkung der OSZE als wichtige gesamteuropäische Organisation. Mit der Folge, dass Russland jetzt nur noch bilateral mit den USA, dann mit der NATO und zuletzt innerhalb der OSZE verhandeln möchte.
Und das obwohl der Werkzeugkasten der OSZE voll ist mit hilfreichen Mitteln: Von Transparenzmaßnahmen, risikoreduzierenden Maßnahmen bis hin zu Vereinbarungen über militärische Manöver ist alles drin. Und noch viel mehr. Ein Blick in die Geschichte der OSZE zeigt, wie es ihr im Rahmen der Helsinki-Konferenzen von 1973-1975 gelungen ist, in den kältesten Tagen des Kalten Krieges Vertrauen zu bilden und gemeinschaftlich Frieden in Europa zu sichern.
Was nun?
Die OSZE ist die einzige Sicherheitsorganisation, in der alle auf Augenhöhe an einem Tisch sitzen, die für die europäische Sicherheitsarchitektur von Bedeutung sind. Sie ist im Kalten Krieg aus der Konfrontation entstanden und von Ländern gegründet worden, die – wie heute auch – sehr unterschiedliche Interessen hatten, aber eine Eskalation verhindern wollten.
Auch wenn die Zukunft der OSZE fragil erscheint, ihre Arbeit ist notwendiger denn je. Ein Vorstoß der Ukraine, Russland aus der OSZE auszuschließen, ist abgewehrt. Helga Schmidt, OSZE-Generalsekretärin, sprach sich für den Verbleib Russlands aus und stellte mit einer freiwilligen Staatengruppe, darunter auch die Bundesrepublik, ein neues Programm auf die Beine. Seit dem 1. November 2022 unterstützt die OSZE die Ukraine weiter bei ihren Reformen und beim Wiederaufbau.
Ihre neue Rolle hat die OSZE damit noch nicht gefunden. Der Westen erinnert sich aber hoffentlich daran, dass sie es war, die einst für Vertrauen unter erbitterten Gegnern sorgte. Und dass es gerade jetzt an der Zeit ist, ihr mehr Aufmerksamkeit, Geld und Expertise zur Verfügung zu stellen.