Ich wusste, dass sie sterben muss. Meine Freundin. Letzten August wurde sie nach zahlreichen Untersuchungen ins Krankenhaus eingeliefert. Ich besuchte sie, saß an ihrem Bett, sie sagte mir zum ersten Mal, wie es wirklich um sie steht. Wir beide weinten. Den einzigen Ausweg sah sie in einer endgültigen Reise in die Schweiz. Doch die Familie war dagegen. Nein, keinen Suizid.
Ich hatte ihr aus den vergangenen 27 Jahren Fotoabzüge mitgebracht, die uns auf gemeinsamen Reisen zeigte. Sie war 20 Jahre älter als ich. Wir haben uns 1987 auf Hawaii kennengelernt, in der Küche eines Hostels. Ich glaube, beim gemeinsamen Kartoffelkochen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch und verbrachten die nächsten Tage miteinander. Danach schrieben wir uns Briefe oder telefonierten, die Wienerin und ich. Es gab weder Handys noch E-Mails.
Wir beide hatten den gleichen „free spirit“. Nichts und niemand konnte uns aufhalten, die Welt zu erobern. Das taten wir. Ende der 1980er bis in die 1990er Jahre lernten wir gemeinsam unseren Planeten kennen. „We are travelling the world“, war unser Leitspruch. Niemals eine organisierte Reise, immer auf eigene Faust. Durch Sri Lanka mit Privatchauffeur, auf die Malediven zum Tauchen, nach Südindien ganz spirituell in einen Ashram, nach meinem Master-Abschluss gemeinsam durch die USA, und, und, und … das war Leben! Pura Vida, wie man in Lateinamerika sagt.
Ich studierte noch, sie hatte mittlerweile zu arbeiten aufgehört, um das Leben zu geniessen. Sie erfüllte sich zwei lang gehegte Träume, indem sie Klavierspielen und Spanisch lernte. In den nächsten Jahrzehnten verloren sich unsere Wege nie ganz, doch jede von uns hatte andere Prioritäten: Sie das Reisen, ich baute mir eine Karriere als Journalistin auf. Sie reiste in die entlegensten Flecken unserer Erde, mittlerweile immer ohne Fotoapparat, da sie Bilder knipsen nur von den wirklichen Schönheiten unserer Welt ablenkte. Wenn wir uns sahen, erzählte sie mir ihre neuesten Abenteuer. Und dann, während einer Südafrika-Reise vor eineinhalb Jahren, machte sich der Tumor erstmals bemerkbar. Wahrhaben wollte sie das nicht.
Im Oktober 2016 besuchte ich sie zum letzten Mal in ihrer Wohnung in Wien. Sie hatte bereits eine Rund um die Uhr-Pflege. Nach einer langen Regenperiode war es ein erster schöner Herbsttag. Sie freute sich, und wir gingen in den nahen Türkenschanzpark. Ich fuhr sie im Rollstuhl, laufen konnte sie kaum mehr. Wir saßen den ganzen Nachmittag auf einer Bank in der Spätherbstsonne und redeten. Über die Zeiten damals, die Reisen, die Glücksmomente und das Leben, das seinem Ende entgegen ging.
Warum nicht noch eine letzte Kreuzfahrt machen, mit der Pflegerin, vielleicht auch noch mit einer Ärztin? In die Karibik oder in die Südsee? Noch einmal Bilder sehen für die Ewigkeit, als eine Hommage an das Leben. Warum nicht? Letztendlich war es dann doch nur ein kurzer schöner Traum, der nicht mehr zu verwirklichen war Ich brachte sie nach Hause, vom Bett aus warf sie mir zum letzten Mal eine Kusshand zu. Das war’s. Für immer! Unser letztes Treffen.
Ich sprach sie noch einmal am Telefon Mitte Dezember, kurz bevor ich in mein Sabbatical aufbrach. Danach kommunizierte ich über E-Mails mit ihrer Tochter. Nachdem ich meine Freundin nun nicht mehr telefonisch erreichen konnte, rief ich heute ihre Tochter an. Ihre Mutter sei im April verstorben, sagte sie. Ich hatte im April noch wegen einer neuen Behandlungsmethode gemailt, über die im Fernsehen berichtet wurde. „Für meine Mutter ist es zu spät“, lautete die Antwort. Damals war sie schon seit Tagen tot. Ich wusste nichts davon, zog aus dieser Mitteilung auch keinen Rückschluss. Auf meine Frage nach dem Friedhof hieß es heute, es gäbe kein Grab. Die Asche meiner Freundin ist dem Meer übergeben worden.
Wieder mal ein Fingerzeig des Schicksals! Das Leben genießen, leben, leben, leben. Sonst nichts!
Wundert mich, dass es hier noch keinen Kommentar gibt!?
Ich kann deine Gedanken gut nachvollziehen. „Das kostbarste am Leben ist, dass es endet. “ Ich glaube Kafka sagte dies sinngemäß. Der Tod erinnert mich stets daran, was und wer wichtig ist im Leben. In dem ganzen liegt eigentlich auch eine positive Deutung.
Ich wünsche Dir alles Gute, Simone
Danke für Deinen lieben und sehr treffenden Beitrag. Meine Freundin hat mir von dieser großen allumfassenden Angst erzählt, die sie lähmt und nicht mehr denken lässt. Ich weiß nicht, was ich tun würde im Angesicht des Todes. Sie wollte noch so viel sehen von unserer Welt … LG Sabine
Liebe Sabine, es tut mir sehr leid und ich fühle mit dir. Du hast bei deinem Wien Besuch gemeint, dass ist nun das Abschied nehmen. Auch wenn man es weiß, ist es trotzdem sehr schwer und eine gute Freundin hinterlässt eine große Lücke. Was bleibt, sind die schönen Erinnerungen, die eines Tages beim Gedanken an diese nicht mehr die Tränen kommen lässt, sondern die Freude, diese erlebt zu haben. Ich kann leider nachvollziehen, wie dies ist, da ein ganz lieber Freund im Februar diese Diagnose bekommen hat. An dieser Krankheit wird er wohl in Bälde sterben…
Alles Liebe
Anita
Danke für Deine sehr lieben Worte, Anita.