Gastautorin Veneda Mühlenbrink
Wem erzähle ich das? Der Titel eines Buches, über den Verlust eines geliebten
Menschen, des einzig geliebten Menschen, gestorben vor einem Jahr und einem Tag.
Die Trauer der Zurückgebliebenen, und der Versuch zwischen Realität und Phantasie den Punkt zu treffen, Abschied zu nehmen, ohne daran zu zerbrechen, und das Leben wieder neu zu entdecken.
Darauf gefasst, auf Klischees und Pathos zu stoßen, irritiert mich das Buch in seiner Klarheit zum Tod. Die Tote erscheint ihrer Geliebten eines Tages. Nicht als Lichtgestalt, wie Sam in dem Film Ghost, eher wie eine langsam verwesende Leiche. Sie riecht nach Morast, und bewegt sich unbeholfen, wie ein Zombie. Lebend noch, als Literaturprofessorin gab sie Vorlesungen. Das geschriebene Wort, die Form, war ihr wichtig. Ihre handschriftlichen Bemerkungen füllten die Ränder ihrer Manuskripte. Jetzt stellte sie unsinnige Fragen, so als würde sie die Bedeutung der Worte nicht mehr verstehen. Real, was ist das? Fragt Sie. Der konstruierte Alltag der trauernden Geliebten funktioniert plötzlich nicht länger.
Sie, die Tote, fängt an, mit ihren wiederkehrenden Besuchen zu nerven, und die Trauernde ertappt sich dabei, das Alleinsein für Momente zu genießen. Einer Freundin erzählt sie von den Besuchen, da könne nur ein Arzt helfen, meinte die. Also beginnt sie, anhand der Notizen und Manuskripten über Vorlesungen der Geliebten, nach Antworten zu suchen. Nebenbei sucht sie eine Therapeutin auf, weil sie glaubt, verrückt zu werden. „You must remember this“, an jedes Detail erinnert sie sich, ein Blick, ein Kuss, eine Diskussion.
Versteht man die Schriftsteller, Poeten und Songwriter der Epochen unserer Zeit, versteht man das Leben. Die Trauernde beginnt, Ihre Bücher zu lesen, Ihre Ausarbeitungen, wie sie es zu ihren Lebzeiten nie tat. Der gemeinsam gekaufte Sessel wird ins Licht geschoben, und mit zärtlichem Blick schaut sie auf Ihre Handschrift neben gedruckten Texten. Die Schrift ist schlecht zu lesen, es ging Ihr zu dieser Zeit schon nicht mehr gut. Und heute habe ich mal 10 Minuten nicht an Dich gedacht. Dieser Satz sagt alles über den Verlust aus. Und die Zeit heilt alle Wunden, ein Satz der Freude nach über einem Jahr, klingt so flach, wie der Glaube an das Jüngste Gericht.
Den Schmerzabbau findet sie in Büchern, Filmen und Kunstgemälden, die Ihr wichtig waren. Dabei darf das Gedicht von Elizabeth Bishop natürlich nicht fehlen: Die Kunst des Verlierens ist nicht schwer zu lernen, fast ein bisschen kitschig, aber hilfreich. Das Buch, dort oben im Regal. Sie nimmt es herunter. Es war immer da, in ihrem gemeinsamen Leben, zumindest die letzten dreißig Jahre. Ihr Oliver Twist. Hat sie nie gelesen. Liebevoll schreibt sie ihre Worte darunter: Ich lese Charles Dickens‘ Roman Oliver Twist, die Szene wirkt sehr intim. Unter der Leselampe im Sessel liest sie es zu Ende, mit Ihr.
Die Prosa der Ali Smith ist klare Poesie, und die Substanz ihrer Sätze begründet ihre Sprachgewalt, ohne intellektueller Füllworte. Eine Wanderung durch die Kunst in ihren Formen und dem direkten Bezug zum Leben in seinen Schattierungen.
Absolut lesenswert, denn jeder von uns verliert eines Tages einen geliebten Menschen.
Ali Smith: Wem erzähle ich das?, 225 Seiten, 20 Euro.